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#mustsee 3

 

Die Galerie Ursula Walter reagiert auf die Lage der derzeit unzugänglichen Kunsträume: Sie geht nach Draußen und bespielt mit dem Projekt #mustsee 1-8 eine naheglegene Werbesäule. Seit Januar an dreh(t)en sich dort statt Reklamebotschaften die Werke von Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz (feat. by Jochen Stankowski) Ulrike Grossarth, Victoria Lomasko, Isabelle Krieg...

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Isabelle Krieg

11.3.-12.4.2021

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Da leuchtet doch am Neustädter Markt, auf einer sich drehenden Litfaßsäule, der Neustädter Markt! Wie schön der Brunnen von Friedrich Kracht auf dem riesigen Foto in der Sonne strahlt, von Bäumen umfangen, dahinter die Architektur des Plattenbaus. Was für eine seltsame Werbung! Hier wird für eben das geworben, was sichtbar vor uns liegt: für den Ort, an dem wir in diesem Moment stehen, für das Gegenwärtige, fürs Jetzt.

 

Die Schweizer Künstlerin Isabelle Krieg, geb. 1971, hat viele Jahre in Dresden gelebt und kennt den Neustädter Markt gut. Sie fand ihn schon immer städtebaulich sehr gelungen. Obwohl eine mehrspurige Straße daran vorbeibraust, kann man sich hier niederlassen und wohl fühlen. Der Künstlerin ist bewusst, dass dieser Platz in seiner Existenz gefährdet ist, dass Pläne für eine Umgestaltung des gesamten städtebaulichen Ensembles bereitliegen. Mit ihrer Arbeit möchte die sie dazu beitragen, dass dieser Ort mit seinen ausgewogenen Proportionen, den Bänken und Lampen, den erhöhten Grüninseln und Bäumen als erhaltenswert erkannt und renoviert wird.

 

Isabelle Krieg ist Alltags-Fotografin. Oft hat sie eine kleine Kamera dabei, das Handy sowieso. Sie fotografiert, wenn es die Situation erlaubt und ihr etwas bemerkenswert – oder einfach „nur“ schön – erscheint. Das mag banal klingen, ist aber grundlegend gemeint: Schönheit als eine Wahrheit, die uns in ihrer ganzen Größe unvermittelt im Innersten trifft, ohne dass wir uns wehren können.

 

Das Hochhaus am Albertplatz, ein Stahlbeton-Skelettbau von 1929, ist Isabelle Krieg sofort aufgefallen, als sie 2012 nach Dresden zog. Über Jahre hinweg fotografierte sie das leerstehende Gebäude in unregelmäßigen Abständen. Die Künstlerin schätzte es nicht nur in seiner Kubatur; sie mochte außerdem die Graffitis und die riesige Regenbogen-Street-Art, die den maroden Baukörper belebten. Auch für die vom warmen Abendlicht beleuchtete große Brache neben dem Gebäude – aufgerissene Erde, Zeichen der bald beginnenden Baustelle – begeisterte sie sich. Der Umbau von 2015 hat das Gebäude zwar erhalten; aber ist es heute nicht seelenlos, kaputt renoviert, verbaut? Das Foto ist nur mehr Erinnerung an eine vormalige Realität.

 

Der Graffiti-Schriftzug „REALITÄT“ beschreibt eben dieses Lebensgefühl, das einen gegenüber einer städtebaulichen Situation erfassen kann: In einer unscheinbaren, tagtäglich übersehenen urbanen Realität lebend, kann uns plötzlich und unerwartet deren Präsenz mit voller Wucht anspringen – häufig an kruden, unfertigen, unscheinbaren Orten. Dort werden wir unmittelbar geflasht von einer großen Klarheit, einem Verstehen, von einer Wahrhaftigkeit im Jetzt. „Alltagserleuchtungen“ nennt Isabelle Krieg diese Momente.


Klein und unbeholfen ist die „REALITÄT“. Etwas erhöht wurde sie auf einen Betonpfeiler der Eisenbahnbrücke an der Rudolf-Leonhard-Straße geschrieben. Isabelle Krieg fuhr an diesem Schriftzug fünf Jahre lang mehrmals täglich vorbei. Als sie ihn das erste Mal las, dachte sie: Ja! GENAU SO ist es. Der Schriftzug ist krumm, er ist unbeholfen und mickrig, er ist genial und ein bisschen lustig. Er bringt etwas auf den Punkt. Und darum ist er schön.

Was für ein Glück, dass sich jemand in dieser unansehnlichen Beton-Fußgänger-Unterführung, die oft dreckig, voller Sperrmüll und Abfall ist, die Mühe gemacht hat, sich zu erheben (vielleicht auf die Schultern eines Freundes, einer Freundin), um dieses Wort über all die anderen Graffitis, Aufkleber und Kritzeleien an die Wand zu schreiben. Das Wort sagt alles, es benennt alles. Es weckt die Sehnsucht, größer zu denken, das Wunder des Daseins, das Universale zu erfassen, die ganze geheimnisvolle Gegenwart: Die „REALITÄT“ ist hässlich, wahr und schön und womöglich schon längst überstrichen.

 

Text: Dr. Carolin Quermann

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Januar - September 2021

Das Projekt #mustsee 1-8 wird im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR von der Stiftung Kunstfonds Bonn und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.

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