#mustsee 6
Die Galerie Ursula Walter reagiert auf die Lage der derzeit unzugänglichen Kunsträume: Sie geht nach Draußen und bespielt mit dem Projekt #mustsee 1-8 eine naheglegene Werbesäule. Seit Januar an dreh(t)en sich dort statt Reklamebotschaften die Werke von Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz (feat. by Jochen Stankowski) Britta Bogers, Victoria Lomasko, Isabelle Krieg...
Mirjam Kroker
15.6.-14.7.2021
Ungefähr 87600 Umdrehungen auf einer Stelle
(moving/standing still/rotating)
(bewegen/stillstehen/rotieren)
Distance is a meaningless spatial concept
apart from the idea of goal or place.
Yi-Fu Tuan1
Würden wir ein paar Runden zusammen drehen? Das fragte sich jemand vor der Litfaßsäule am Neustädter Markt stehend; und weiter, für wie lange und in welchem Rhythmus müssten diese Umdrehungen und Umgehungen sein, bis eine eingelegte Pause im absoluten Stillstand, sogar den Platz selbst, vor ihren Augen zum Rotieren bringen könnte? Der ‘Animierte Körper’ und sein ‘lebendiges Äquivalent’.
“We live in space. There is no space for another building on the lot. […] Place is security, space is freedom: we are attached to one and long for the other.“ schreibt Yi-Fu Tuan in seinem Buch Space and Place. The Perspective of Experience und stellt fest, dass dies beides, Grundbestandteile der gelebten Welt sind, die wir für selbstverständlich halten. Beginnen wir wirklich über sie nachzudenken, können sie unerwartete Bedeutungen annehmen und Fragen aufwerfen, an die wir nicht gedacht haben sie zu stellen.2
Nach ein paar Runden in Gedanken, etwas skeptisch wegen der Tatsache, dass es sich da im Prinzip um einen Werbeträger mit einer dreigeteilten Bildfläche handelt, scheinbar zu allem Überfluss auch noch animiert. Beides Tatsachen, die sich zuerst – (obwohl unaufgefordert, als Aufforderung bemerkbar machen) – sich insbesondere auf die Funktion als Bildträger zu beziehen. Der Switch passiert, als sich eine Verbindung einstellt und klar wird, dass es zuerst übersehene, interessante Gemeinsamkeiten zwischen diesen Körpern gibt, die beide Raum einnehmen und sich nicht zuletzt auf ihre Weise bewegen lassen. Ja. Wir sind intim verbunden, mit allem, auf das wir uns einlassen.
Die Litfaßsäule, als animierter Körper, steht als solche fest auf einer Stelle, während sie sich ca. 2 Mal pro Minute um ihre eigene Achse dreht. Genau genommen sind es 34 Sekunden, die sie für eine Rotation benötigt. Wenn man wollte, könnte man mit ihr gehen, sie umkreisen. Erwägt man dies synchron zu tun, könnte über den Abstand, den man zu ihr einnimmt, mit dem Tempo gespielt werden.
Ungefähr 87600 Umdrehungen macht die Litfaßsäule im Laufe eines Monats. Bei einem Kreisumfang von ca. 4,72 Metern, ist das theoretisch eine Strecke von 413 km – überaus beachtlich! (Wollte man es ihr gleich tun, würde man einen Monat lang täglich durchschnittlich 13 km zu Fuß zurücklegen.)
Stelle man sich als Gedankenexperiment vor, die Litfaßsäule bewege sich in diesem besagten Monat statt um ihre Achse, auf einer Linie, könnte sie sich am Ende in Polen, der Slowakei oder Österreich weiter drehen. Bratislava liegt mitunter ziemlich genau am Ende dieser Strecke, ebenso ein Standort an der polnischen Küste. Vielleicht wäre es aber viel interessanter, sie würde irgendwo mitten im Wald stehen oder auf einer Plattform in der Ostsee schwimmen.
Die drei Gedankenfiguren bewegen/stillstehen/rotieren, die sich ab dem Zeitpunkt ihrer Verortung auf dieser Säule bis zu ihrer Demontage mit dem endlos rotierenden Körper einstellen, sind als solche nicht per se auf eine ausgesprochene Heranführung angewiesen. Es gibt ausreichend Offensichtliches und erheblich mehr Verstecktes, an das diese reduzierten Bildtexte denken lassen können. Wenn Sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren, sei es auf eine Welle, die Fontäne nebenan, einen Menschen, die Litfaßsäule oder den Mond, und sich verbinden, passiert immer etwas.
Ob ihrer reduzierten Erscheinung bergen diese Bildtexte endlos denkbare Möglichkeiten, von denen Sie weitere kennen, um zu hinterfragen, wie wir uns bewegen – stillstehen – rotieren. Wovon diese Möglichkeiten abhängen, was sie bedingt, mit welchen Kriterien sie kontrolliert, berechtigt oder verhindert werden, wer sich zum Stillstand entscheidet und wer stillstehen muss. Bis hin zu dessen Bezugspunkten zur unmittelbaren Umgebung und gegenwärtigen Historizität einer pandemischen bis post-pandemischen, planetarischen Gegenwart.
Dies ist somit nur eine dieser Varianten um herauszufinden wie spezifisch Ort/Bild/Materie zeitlich in Beziehung stehen können, die sich besonders dafür interessiert, was hinter den Bildtexten liegt. Mit Yi-Fu Tuan's Worten gefragt: “how are these bodily postures, divisions, and values extrapolated onto circumambient space?“3... und weiter in diese Richtung gedacht: “To experience is to learn; it means acting on the given and creating out of the given. The given can not be known in itself. What can be known is a reality that is a construct of experience, a creation of feeling and thought.“4
Ein poetischer Gedankenentwurf, verwurzelt, aber endlos in Bewegung. Du hast den Puls des Rhythmus, wenn du stillstehst – gehst – rotierst.
standing still:
moving:
rotating:
Im Zug, der lebendige Körper, 2021
Ungefähr 87600 Umdrehungen auf einer Stelle ist ein Vorschlag, sich der Litfaßsäule zu nähern und zu entfernen in so vielen Runden wie gangbar. Inspiriert von den Grenzen des Möglichen.
Materie: 1 Animierter Körper, x lebendige Körper: 3 Plakate als Denkfiguren
Laufzeit: 1 Monat (15.06-15.07. 2021)
Kreisumfang: 4,72 m
Radius: 0,75,12 m
Umdrehungen: ca. 0,34 sec pro Umdrehung
Indirekte Strecke: 413 km
Referenz:
-
Tuan, Yi-Fu, 1977. Space and Place. The Perspective of Experience, University Minnesota Press, Minneapolis, Minnesota.
1 S. 136
2 Vgl. S. 3
3Ebd., S. 6
4Ebd., S. 9
Text: Mirjam Kroker
Januar - September 2021
Das Projekt #mustsee 1-8 wird im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR von der Stiftung Kunstfonds Bonn und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.